Kapitaleinkünfte zu berücksichtigen. Die Bundesbank schrieb in ihren Monatsbericht bereits im Oktober 1993:
„Üblicherweise fließt ein Teil der privaten Geldvermögenserträge nicht in den Konsum, sondern wird gespart. […] Insgesamt entsprachen Zinsen und Dividenden 1992 rund vier Fünfteln des zur gleichen Zeit neu gebildeten privaten Geldvermögens; im Durchschnitt der fünfziger Jahre hatte diese Relation erst ein Sechstel betragen. Diese Gegenüberstellung, in der die Einkommenssteuer auf Geldvermögenserträge unberücksichtigt bleiben muss, deutet darauf hin, dass die wachsende private Ersparnis auf längere Sicht auch eine Folge der Selbstalimentation durch steigende Erträge ist.“
Die heutige Situation ist das Ergebnis extremer Ungleichgewichte, die sich bei der Vermögensverteilung herausgebildet haben. Und die höheren Zinsen der Vergangenheit waren eine der Hauptursachen, dass derartige perfide Kapitalkonzentrationen überhaupt erst entstehen konnten. Viele Kritiker schauen oft nur auf die Zinseinnahmen von Anlegern. Man sollte jedoch immer auch die Zinslasten betrachten, die jede und jeder beim Einkaufen, beim Steuern zahlen und bei eigenen Kreditaufnahmen zu schultern hat. Ob man also zu den Gewinnern bei höheren Zinssätzen zählt, ergibt sich mathematisch exakt aus dem Saldieren von Schuldzinszahlungen und Guthabenzinseinnahmen. Mehr als acht von zehn Menschen zahlen prinzipiell mehr Zinsen, als sie je vereinnahmen können. Ein kaum vorstellbarer Umverteilungsmechanismus in irren Dimensionen.
Ob nun Immobilien und Aktien pauschal als spekulative Anlagemöglichkeiten bezeichnet werden können, darüber kann man sich streiten. Sicher besteht die Motivation von Investoren auch darin, da sie keine Zinseinnahmen auf Einlagen mehr in gewünschter Höhe abgreifen können, über Mietzins oder Dividenden Renditen einzufahren. Müller übersieht jedoch, dass vor allem dank Zins und Zinseszins sich weltweit über 200 Billionen US-Dollar an Guthaben aufgebaut haben. Vergleicht man diese Forderungen in ihrem Gesamtwert mit dem Weltbruttosozialprodukt in Höhe von ca. 74 Billionen US-Dollar in 2016, kommt man zu dem Resultat, das es sich um eine enorme Blase handelt, die sich hier in diesem Segment entwickelt hat. Diejenigen, die das erkennen, flüchten nun in Sachwerte. Der Antrieb ist dann nicht der niedrige Zins, sondern die Angst vor massivem Wertverlust von verzinslichen Papieren.
Alle sind sich einig, an vielen Stellen dieser Welt ist eine Überschuldung festzustellen. Doch den Verpflichtungen stehen Ansprüche in selber Größe gegenüber. Irgendwann werden die Halter solcher Papiere erfahren, dass eine notwendige Reduzierung der Überschuldung nur möglich ist, indem man auch die Ansprüche tangiert. Man nennt so etwas zum Beispiel Schuldenschnitt, ein solcher wird gerade in Wiederholung für Griechenland diskutiert.
Weiter formuliert Müller: „Offensichtlich haben sich die verantwortlichen Politiker wie auch die für die Geldpolitik Verantwortlichen entschieden, den Banken, Börsen und Spekulanten unter die Arme zu greifen, ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten und Profite zu ermöglichen. Anders kann man diese Politik nicht erklären.“
Auch hier muss ich Müller widersprechen. Die Zinsen fallen seit vielen Jahren, die Hauptursache ist ein Überangebot an Kapital, was sich, wie oben beschrieben, über Jahrzehnte gebildet hat. Die niedrigen Zinsen sind demnach kein Geschenk der Politik an „im Immobilien- und Wertpapiermarkt Tätige“, sondern Ergebnis systemischer Gegebenheiten.
Die USA haben beispielsweise eine Staatsverschuldung von ca. 20 Billionen US-Dollar aufgebaut. Läge die Zinsrate um fünf Prozent über dem aktuellen durchschnittlich von der US-Regierung zu zahlendem Niveau, müssten jährlich 1.000 Milliarden US-Dollar mehr aus dem Regierungshaushalt aufgebracht werden. Allerdings besteht seit Jahren in den USA ein Defizit von mehreren hundert Milliarden US-Dollar pro Jahr. Wie soll also bei deutlich höheren Zinsen die daraus resultierende Zinsbelastung von diesem Land gestemmt werden? Für Deutschland ließe sich übrigens eine vergleichbare Rechnung anstellen.
Wer sich Zinsen deutlich über null Prozent als destruktive Geldumlaufsicherung wünscht, sollte sich mit dem Zinseszinseffekt beschäftigen. Die Ökonomie möchte die irren Wirkungen eines solchen Mechanismus mit Wirtschaftswachstum beseitigen. Jedoch kann nichts auf der Welt zeitlich unbegrenzt exponentiell wachsen. Keine Guthaben, keine Schulden und erst recht keine Wirtschaftsleistung. Deshalb benötigen wir alternative Systeme, wie beispielsweise das Fließende Geld.
Steffen Henke