Gleich zu Beginn liefert er am Beispiel der Angebotsfunktion einen Beleg dafür, welche Ableitungsfehler entstehen, wenn mit mangelhaften Modellen gearbeitet wird. An vielen Stellen hat Dr. Niessen meisterhaft die klassischen Denkstrukturen der herrschenden Lehre verlassen. So können nützliche Impulse gegeben werden. Im Bereich des Geldsystems ist ihm dies leider nur bedingt gelungen. Eine wissenschaftliche Trennung zwischen Geld und Forderung auf Geld erfolgt leider nicht. Damit geschieht auch keine saubere Unterscheidung zwischen den beiden Fragen: „Wie gelangt neues Geld in den Wirtschaftskreislauf?“ und „Wie bleibt das bereits ausgegebene Geld im Wirtschaftskreislauf?“ Das überrascht insofern, da er an andere Stelle brillant belegt, dass ein stetiges Wirtschaftswachstum ein Irrweg ist und deshalb Wege gefunden werden sollten, mittels derer der Ressourcenverbrauch zwecks Erhalt unserer Lebensgrundlage, unseres Planeten, deutlich reduziert werden kann. Nur im Falle einer Outputschrumpfung ist die Diskussion über die Art der Geldumlaufsicherung wesentlicher als die Betrachtung, wie zusätzliches Geld in Umlauf gelangt. Ich vermute, dass Dr. Niessen bei diesem Thema selbst noch unsicher ist, denn er arbeitet in dem Kapitel zum Geld mit auffällig mehr Fragen als in anderen Absätzen. Unter der Fußnote 86 verweist er auf die Vollgeldinitiative, erwähnt jedoch selbst, dass „die explizite Kritik an der Verzinsung privater Ersparnisse“ fehlt. Da „Das Geldsyndrom“ von Helmut Creutz im Literaturverzeichnis aufgeführt ist, sind dem Autor offensichtlich die Wirkungen der destruktiven Geldumlaufsicherung Zins bekannt, letztendlich spricht er diese auch an. Bedauerlich nur, dass er hier keine Alternativen in diesem Bereich thematisiert.
Eine wahrlich mutige Betrachtung liefert er im hinteren Teil seiner Arbeit. Hier zäumt er das Pferd von hinten auf und rechnet rückwärts. Unter Verwendung des ökologischen Fußabdrucks versucht er grob zu ermitteln, wie sich das Weltbruttosozialprodukt verändern muss, damit wir Menschen die Erde für auch zukünftige Generationen bewohnbar halten. Weiter ermittelt Dr. Niessen, welche finanziellen Mittel jedes Individuum unter Berücksichtigung der Kaufkraftparität (Kaufkraft einer Währung in Abhängigkeit vom Standort) bei fairer Verteilung der Arbeitsergebnisse erhalten könnte und schlussfolgert hieraus, welche Konsequenzen sich ableiten lassen. Sein Fazit: Die sich ergebenden Einschränkungen trügen eh nicht zu unserem Glücksempfinden bei, insofern würden wir größtenteils auf Dinge verzichten, die unser Leben bereits heute nicht bereichern. An dieser Stelle nennt er die Rüstungs-, Raumfahrt-, Werbe- und Unterhaltungsindustrie sowie den Luxusgütersektor.
Bewerte ich nun das Buch ganz subjektiv bezogen auf das Thema, für welches ich mich mit Begeisterung einsetze, das Fließende Geld, bin ich eher enttäuscht. Doch das wäre dann doch einseitig betrachtet und zu kurz gesprungen. Es ist ein wertvolles Signal, dass sich klassisch ausgebildete Volkswirte in Gebiete vorwagen, die bisher tabuisiert waren. Im betreffenden Werk werden Fragen aufgeworfen, die sonst im Nebel systemkonformer Denkmuster verschwinden. Ich denke, es war auch nicht Ziel des Buches, in allen Gebieten Antworten zu liefern, auch wenn Dr. Niessen den Leser durchaus nicht im Regen stehen lässt und auch nennenswerte Lösungsansätze bespricht. Für mich ausgesprochen wesentlich ist, dass Dr. Niessen es aus meinem Empfinden heraus mit ganzen Herzen ehrlich meint. Sein Kernansatz ist, die Wirtschaftswissenschaft zu entideologisieren, damit wir endlich für die großen Herausforderungen unserer Zeit wie Armut, Ungleichheit und Umweltzerstörung auf die mythenfreie Suche nach Lösungen gehen. Dabei sollten wir die historisch gewachsenen Denkstrukturen verlassen und neue Analysewerkzeuge verwenden. Alle Interessierten, die den streng systemkonformen Rahmen der Ökonomie verlassen wollen, sollten deshalb dieses Buch lesen.
Steffen Henke